Geschichte

Von der Heide zum Vogelschutzgebiet 

Heide-Reste im Naturschutzgebiet „Gelmer Heide“

Das Gelände der Rieselfelder von Münster hatte in den letzten zwei Jahrhunderten schon viele Gesichter: Ursprünglich mit Eichen-Hainbuchenwald bedeckt, verarmte sein Boden aufgrund der Übernutzung durch den Menschen mit Holzeinschlag und Viehhaltung so sehr, dass sich allmählich ein Heidegebiet entwickelte.

Nach einer teilweisen Nutzung als Übungsplatz für die preußische Kavallerie und Artillerie wurden im Bereich der Gelmerheide zwischen den heutigen Stadtteilen Gelmer, Coerde und Kinderhaus seit 1899 Rieselfelder angelegt, die ab 1901 ihre Funktion als „Anlage zur Landbehandlung von Abwässern“ für die Innnenstadt von Münster aufnahmen.

Bau der Druckrohrleitung für die Abwässer vom Pumpenhaus an der Gartenstrasse bis zu den Rieselfeldern (Quelle: Kläranlage Münster)

Bis zum Jahr 1901 wurde eine große Druckrohrleitung vom Pumpenhaus in der Gartenstraße zu den Rieselfeldern fertig gestellt. Zunächst erschloss die Stadt ein Gebiet von etwas über 200 ha Fläche. Es war in Parzellen zu je ca. einem Hektar unterteilt.

Fortan wurde dieses Gebiet zwischen Ems und Aa zur Verrieselung und damit zur Reinigung der städtischen Abwässer genutzt. Dies geschah in den ersten Jahrzehnten fast ausschließlich über die gelegentliche Beschickung landwirtschaftlicher Nutzflächen mit dem Abwasser.

Das Abwasser von Münster floss vom Pumpenhaus an der Gartenstraße durch eine lange Betonrohrleitung in hoch gelegene Absetz- und Verteilerbecken. Von hier aus wurde es über mit Platten ausgelegte Gräben und Rinnen aus Betonhalbschalen auf die mehr als 130 Flächen verteilt. Die verrieselten Abwässer waren gleichzeitig ein wichtiger Dünger für die vormals nährstoffarmen Heideböden. Nun konnten zahlreiche Kleinpächter auf den gedüngten Böden Korn und Gemüse anbauen oder Milchviehhaltung betreiben und ihre Erzeugnisse auf dem Markt verkaufen.

Marktfrauen am Prinzipalmarkt , im Hintergrund St. Lamberti (Quelle: Stadtarchiv Münster)

Das „verrieselte“ Abwasser stand einige Zeit auf den Klärflächen und versickerte durch den Sandboden oder verdunstete. Durch die in 1,2 m Tiefe gelegenen Drainagen wurde das Sickerwasser in tiefer gelegene Ableiter abgeführt. Es führte je ein Ableiter zur Aa und zur Ems. Mit der wachsenden Bevölkerung Münsters und damit ansteigenden Abwassermengen stieg die Ausdehnung der Rieselfeld-Flächen bis zu Anfang der 1960er Jahre auf 640 ha. Eine weitere Vergrößerung des Gebietes war aufgrund naturräumlicher Gegebenheiten nicht möglich.

Ab 1962 wurden zunehmend mehr Parzellen nur noch als Grünland genutzt und das ganze Jahr hindurch berieselt oder sogar ständig unter Wasser gehalten. Bis 1969 stieg der Anteil solcher offenen Wasserflächen auf mehr als 240 ha.

Die Äcker und Weiden verschwanden allmählich zugunsten eines sich ständig verändernden Mosaiks aus Flachwasserteichen und Schlammflächen.  Die offenen Flachwasser- und Schlammparzellen der Rieselfelder boten vielen seltenen und gefährdeten Wasser- und Watvogelarten einen attraktiven Ersatzlebensraum an, weil parallel durch die Trockenlegung von Mooren, den Umbruch großer Feuchtwiesen zu Ackerland und die Begradigung von Flüssen und Bächen immer mehr natürliche Feuchtlebensräume in Mitteleuropa verschwanden.

Tubifex (Schlammröhrenwürmer)-Knäuel, Foto: Dr. Giselheid Reding

So entstand aus Menschenhand ein mosaikartiges Feuchtgebiet aus flachen Wasserstellen, Schlammbänken, feuchten Brachflächen und nassem Grünland. Viele Vogelarten sind bei der Nahrungssuche gerade auf Flachwasserzonen angewiesen. Der meist nur bis zu 20 cm hohe Wasserstand bot neben der Fülle auch eine gute Erreichbarkeit der Nahrung.

Auf den dauerhaft unter Wasser stehenden Flächen entwickelte sich aufgrund des hohen Nährstoffgehaltes eine Kleintierfauna, die zwar arm an Arten aber umso reicher an Individuen war. Abertausende von Schlammröhrenwürmern, Fliegen- und Mückenlarven, Wasserflöhen sowie einigen anderen Arten boten Wat- und Wasservögeln einen Überfluss an Nahrung.

Die Verlandungsbereiche – mit Schlammbänken und Flachwasser – sind ideale Nahrungsreviere für viele Vogelarten

Zudem entwickelten sich an den Rändern der Klärteiche schmale Verlandungsgürtel, die den Vögeln Möglichkeiten zur Deckungssuche und als Nistplatz boten. Aufgrund der damaligen Geruchsbelästigung durch die Abwässer war das Gebiet fast menschenleer. So fanden die durch die spiegelnden Wasserflächen angelockten Zugvögel ein wahres Paradies vor, in dem sie in Ruhe Fettreserven für den Weiterzug anlegen und ihr Gefieder mausern konnten.

Nach 1965 wurde deutlich, dass die Rieselfelder die täglich anfallenden Abwassermengen Münsters nicht mehr bewältigen konnten. So fiel 1967 der Startschuss für die Planung einer Großkläranlage, die 1975 ihren Betrieb aufnahm. Dadurch wurden die Rieselfelder aus abwassertechnischer Sicht überflüssig.

Mit dem Bau der Großkläranlage 1975 verloren die Rieselfelder ihre ursprüngliche Funktion. Vor Ort arbeitende Ornithologen und Naturschützer, die bereits 1968 die Biologischen Station „Rieselfelder Münster“ gegründet hatten, aber auch viele Münsteraner,  sahen die große Gefahr einer Trockenlegung mit nachfolgender naturschutzfremder Nutzung heraufziehen.

Die erste Biologische Station in den Rieselfeldern – Bauwagen am Rande der Gelmer Heide

Die Stadt Münster plante, auf den Rieselfeldflächen, aufgrund der guten Anbindung durch den Dortmund-Ems-Kanal, die Hauptbahnlinie Münster/Rheine und durch überegionale Straßen (Bundesstraße und Autobahn), ein Industie- und Gewerbegebiet zu errichten.

Nach langem politischen Ringen und Dank des großen Engagements von Naturschützern, einer Bürgerinitiative (BI: „Rettet die Rieselfelder“) und der Landesregierung gelang es 1976, zunächst ca. 230 ha Rieselfeldfläche als Vorrangfläche für den Vogelschutz zu erhalten. 1977 pachtete das Land NRW für 20 Jahre den 233 ha großen Nordteil der Rieselfelder und stellte ihn dem Naturschutz zur Verfügung.

Demo vor dem Münsteraner Rathaus für den Erhalt der Rieselfelder als Reservat für Zugvögel

Die deutsche Sektion des Internationalen Rates für Vogelschutz zeichnete 1978 das inzwischen über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannte Gebiet mit dem Prädikat Europareservat aus.

Bis 1980 stand die Wiederherstellung des Bewässerungsflächen im Vordergrund der Schutztätigkeiten.

1983 erfolgte die Anerkennung als Feuchtgebiet internationaler Bedeutung, womit das Gebiet unter den Schutz der Ramsar-Konvention, einem bedeutenden internationalen Naturschutzabkommen, gestellt wurde.

Von besonderer juristischer Bedeutung ist die Ausweisung als „Europäisches Vogelschutzgebiet“ nach der Europäischen Vogelschutzrichtlinie von 1979. Damit ist der Erhalt dieses „Vogelparadieses aus zweiter Hand“ gesichert. Die Gesamtheit der im Rahmen der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesenen Flächen und der Gebiete nach der EU-Richtlinie „Flora-Fauna-Habitat“ (FFH) bilden das europäische Netz „Natura 2000“. Mit dem Inkrafttreten des Landschaftsplanes „Nördliches Aatal und Vorbergshügel“ 1998 wurde der nördliche Teil der Rieselfelder  – das Reservat – auf nationaler Ebene als Naturschutzgebiet (NSG) festgesetzt.

Nicht zuletzt dieser vielfachen Wertschätzung ist es zu verdanken, dass von 1998 bis 2000 der Südteil der trockengelegten Rieselfelder wieder zu einem Feuchtgebiet umgestaltet werden konnte, das als Naturerlebnisgebiet Naturschutz und Naherholung gleichermaßen zugute kommt.

Seit 1992 gibt es zur Finanzierung von Naturschutzaufgaben das EU-Förderprogramm „LIFE-Natur“. Dadurch wurde die Erweiterung der Rieselfelder von 1998 bis 2000 um den Naturerlebnisteil mit ca. 200 ha Fläche erleichtert. Die von 2009 bis 2011 eingesetzten EU-Regionalfördermittel flossen in den barrierefreien Um- bzw. Neubau von Beobachtungseinrichtungen.

Heute sind die Rieselfelder mit mehr als 60.000 Besuchern pro Jahr ein „Naturerlebnis für Alle“.

Tiere und Pflanzen haben in den Rieselfeldern wieder eine Fläche von fast 450 ha zur Verfügung. Während das neue Gebiet den Besuchern ein intensives Naturerlebnis vermitteln soll, steht im Naturschutzgebiet der Schutz störempfindlicher Tiere im Vordergrund. Deshalb wird dieser Teil der Rieselfelder nur noch im Rahmen von Bestandserfassungen und Pflegearbeiten betreten.